Statement des Vereins „Demokratie schützen – Grundgesetz achten e.V. “ zur Gedenkveranstaltung am 09. November 2022 vor der Synagoge in Bingen
Der Vorsitzende Dr. Ralf Kohl mit dem Statement:…„Wehret den Anfängen“
Am 09. November erinnern wir an die Reichsprogromnacht von 1938 und an die von den Nazis millionenhaft begangenen Morde an Jüdinnen und Juden, an Sinti und Roma, an anderen Volksgruppen, an Behinderten und Kranken. Die 115 Stolpersteine in unserer Heimatstadt erinnern an die Deportation und Ermordung von rund 150 jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus Bingen während des 2. Weltkriegs. Ihre Leben wurden grausam ausgelöscht.
Der Verein „Demokratie schützen – Grundgesetz achten“ setzt sich auch für ein friedliches Zusammenleben der Kulturen und Religionen in Deutschland ein. So etwas wie der Holocaust darf sich nie mehr wiederholen! Alle Menschen, alle Religionen und alle Völker stehen gleichberechtigt auf einer Stufe. Und klar ist: Für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger und für den Staat Israel haben wir auf Grund unserer Geschichte eine besondere Verantwortung.
Der Antisemitismus nimmt in Deutschland leider wieder deutlich zu. Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger werden seit Jahren wieder verstärkt Opfer von Angriffen, Verunglimpfungen und Beleidigungen. Die Mordattentate von Halle im Jahr 2019 und der Angriff auf die dortige Synagoge sind in uns noch alle in Erinnerung. Synagogen werden angegriffen oder verunstaltet. Juden werden angegriffen oder diskriminiert, z.B. wenn sie auf der Straße eine Kippa oder einen Davidstern tragen. Auch andere Volksgruppen, wie die Sinti und Roma, werden heute wieder beleidigt, diskriminiert und verunglimpft.
Ich sage nur: „WEHRET DEN ANFÄNGEN!“
Das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors 1933-1945“ in Berlin hat die Ermordung von rund 6 Mio. Juden und rund 500.000 Sinti und Roma dokumentiert….. Eine Ausstellung, die ganz tief unter die Haut geht. Und die die Sicht auf den Holocaust nochmal verändert.
Nach Schätzungen der Berliner Wissenschaftler waren rund 1,5 Mio. Deutsche direkt und indirekt an der organisierten Tötung und an der tausendfachen Liquidierung von über 6,5 Mio. Menschen beteiligt. Sei es als KZ-Mitarbeiter, Soldate, SS-Angehörige, Gestapo, Nazi-Schergen, sei es als Helferinnen und Helfer oder sei es der Blockwart oder Vermieter, der völlig ohne Not Juden in seiner Straße denunziert hat.
Nach Recherchen des Dokumentationszentrums kam es von 1945-1990 in Westdeutschland, der DDR, Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und Russland zu rund 120.000 Verurteilungen. Die meisten Verurteilungen übrigens in der DDR und in Polen. Das sind 8% der vermeintlichen Täterinnen und Täter. Nicht gerade viel! Von 1990 bis 2020 kamen weltweit nur noch einige Hundert Verurteilungen dazu. Viele Täterinnen und Täter sind inzwischen verstorben.
Doch eine andere ZAHL hat das Dokumentationszentrum noch nachdenklicher gemacht. Im Deutschen Reich lebten von 1933-1939 (Kriegsanfang) rund 65 Mio. Menschen. Spätestens seit der Reichsprogromnacht am 09.11.1938 wurden Jüdinnen und Juden in Deutschland aggressiv verfolgt, gebrandmarkt und angefeindet. Im Prinzip aber auch schon seit 1933.
Aber von den 65 Mio. Deutschen haben mehr als 55 Mio. weggeschaut, als die Nazis anfingen, jüdische Mitbürger und andere Volksgruppen seit dem Jahr 1938 aggressiv zu verfolgen, zu brandmarken und anzufeinden.
55 Mio. Deutsche haben weggehört, wenn Lehrer in der Schule sagten, „Judenkinder stinken“ und dürfen nicht neben deutschen Kindern sitzen.
55 Mio. Deutsche haben nicht gegen Schilder protestiert: „DEUTSCHE KAUFEN NICHT BEI JUDEN“ oder „BETRETEN DES BEZIRKS FÜR JUDEN VERBOTEN“.
Wir sind keine Helden. Auch wir nicht und ich nicht ….Wir sind keine Helden! Wir hätten wahrscheinlich auch weggeschaut, weil es uns nicht betroffen hat!
Weil es die 55 Mio. Deutsche damals einfach nicht betroffen hat! Und weil sie keinen Ärger wollten. Sich keiner Gefahr aussetzen wollten!
Aber eines sollte uns diese Zahl lehren. Wenn 55 Mio. Deutsche damals nicht weggeschaut und nicht weggehört hätten, wäre die Geschichte sicher anders verlaufen, auch wenn nicht alles hätte verhindert werden können!
Deshalb: Wenn heute wieder Jüdinnen und Juden oder Sinti und Roma in unserem Land (oder woanders) angegriffen, diskriminiert oder verunglimpft werden, dann dürfen wir nicht mehr wegsehen. Dann dürfen wir nicht mehr weghören. Wir dürfen dann nicht mehr schweigen. Denn es geht um Demokratie und Freiheit, es geht um die Bewahrung der Humanität und der Menschenwürde, die jedem Menschen in jedem Land zusteht – auch in Deutschland……. Und das betrifft uns ALLE – jeden einzelnen!
Der Verein „Demokratie schützen – Grundgesetz achten“ bittet Sie alle, FARBE zu bekennen und Zivilcourage zu zeigen, wenn es notwendig ist.
Wir dürfen nicht mehr wegsehen! Wehret den Anfangen! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Ralf Kohl,
09. November 2022